Liz Gehrer – eine Werkeinführung

«Trotz oder gerade wegen seiner (bei der Verarbeitung erreichten) Härtung erlaubt der Karton, Prozesse und Strukturen auch noch im Nachhinein, am fertigen Objekt, aufzuzeigen. Furchen, Risse, Ein-drücke bleiben erkennbar und sagen schon körperlich aus, was mich thematisch besonders beschäftigt: die Verletzlichkeit der Menschen und ihrer Beziehungen.» (Liz Gehrer)

 

Material und Technik

Ihre ureigene künstlerische Ausdrucksform hat Liz Gehrer in der bildhauerischen Arbeit mit Karton, Eisen und Pergamentpapier gefunden. Bei der Formgebung ihrer Kunstobjekte spielt Kleister, der als Klebstoff und Härtemittel im Trocknungsprozess eine ungewöhnliche Eigendynamik entwickelt und auf die Plastiken überträgt, eine herausragende Rolle. So verbiegen sich Eisenstäbe unter der Kraft des mit Kleister getränkten, trocknenden Pergamentpapiers. Liz Gehrer reizt der materielle Gegensatz und die scheinbare Verkehrung physikalischer Gesetzmässigkeiten. Die Farbgebung ihrer Objekte und Bilder orientiert sich an der Archaik des Arbeitsmaterials. Wenige Grundfarben wie Rot und Blau mischen sich unter die breite Palette der verwendeten Erdfarben, des Schwarz und des Weiss.
Bildsprache und künstlerisches Anliegen

Im Altkarton, einem typischen Verpackungs- und Gebrauchsmaterial unserer Zeit, hat Liz Gehrer eine faszinierende Möglichkeit entdeckt, thematische Fragestellungen, Material und Verarbeitungstechnik in ungewöhnlicher Weise zu verknüpfen. Leben hinterlässt Spuren lautet der Untertitel ihres ersten Werkkatalogs, und viele ihrer Kartonplastiken benennen in ihren Titeln Aspekte des menschlichen Daseins. Aufgewühlt und Zwiespalt, Warten und Zerfall, Verbunden und Nähe – Skulpturen, die von einer tief empfundenen Existentialität sprechen. Es sind «übergrosse, überschlanke menschliche Silhouetten» (O.Pfister), gesichts-und gliedmassenlos, die stumm und dennoch aufwühlend mit dem Betrachter in Kommunikation treten. Mit ihren zerfurchten Oberflächen, den unvermittelt vorspringenden Metallverstrebungen, ihren Rissen und tiefen Eindrücken verwandeln sich die schmalen Figuren in Metaphern der Einsam- und Vergänglichkeit. Liz Gehrer stellt den Menschen nackt dar, ohne schützende Hülle, ohne unschuldigen Schein, sondern in der ganzen hilflosen Geworfenheit seines Seins.

Die vertikale Überstreckung der Figuren assoziiert die zunehmende Individualisierung, Egozentrik und Kommunikationsunfähigkeit in der andererseits lebensnotwendigen Gemeinschaft; die Wahl wertloser Wegwerfprodukte als bildhauerische Werkstoffe führt den allgegenwärtigen materiellen Zerfallsprozess vor Augen. Ihre Karton- und Betonskulpturen sind zwar über den Tag hinaus angelegt, sie unterliegen aber, zumal wenn der Witterung ausgesetzt, einer gewissen Veränderung. Sie beginnen ein individuelles Eigenleben zu entwickeln, das zur Mutation oder eines (fernern) Tages zur Vernichtung führen kann. Liz Gehrer führt hierin den traditionellen Anspruch der Bildhauerei auf dauerhafte Verewigung eines künstlerischen Ausdrucks ad absurdum.

Zufall und Versehung steuern bei Liz Gehrers Pergamentobjekten und -bildern die künstlerische Gestaltung, ein Spiel mit der Eigenwilligkeit der Materialien. Kleistergetränktes Pergament verliert während des Trocknens seine Fragilität . Im Wind trocknende Papierbahnen erstarren in der Bewegung. Rostige Eisenspangen und -stäbe scheinen sich der Kraft der sie umspannenden Pergamentstreifen beugen zu müssen. Immer wieder gewährt die Künstlerin den Werkstoffen ihre Eigendynamik. Sie unterstützt und vollendet den Prozess in der sparsamen, expressiv-abstrakten Bemalung ihrer Objekte.
Liz Gehrers Kunst berührt und betrifft, sie wirft existentielle Fragen auf. Kunst ist Kommunikation. Ist Kommunikation überhaupt möglich?

 

Stefanie Dathe, Auszug aus einer Werkeinführung, Bonstetten ZH, 1996

Dr. phil. Stefanie Dathe ist Kunsthistorikerin und u.a. Kuratorin des Forums der besonderen Art, Herz-Zentrum Bodensee II, Konstanz